Verhaften Sie mich ruhig – ich habe Schlimmeres erlebt!

Hamburg 1979. Vor ihrer Boutique spielen sich tumultartige Szenen ab, als Demonstranten gegen einen Informationsstand der rechtsextremen NPD mit Rufen wie „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ protestieren. Als die Polizei die Demonstranten mit Schlagstöcken bedroht, packt Esther Bejarano einen der Polizisten wütend am Kragen: „Was machen sie hier? Sie schützen die Nazis und verprügeln die Demonstranten? Das ist doch eine Katastrophe.“ Der Drohung des Polizisten, er werde sie festnehmen, entgegnet Bejerano schlagfertig: „Mich verhaften? Ich habe Schlimmeres erlebt. Ich war in Auschwitz.“ Darauf ein NPD-Mann: „Die Frau da, die müssen sie verhaften! Sie ist eine Verbrecherin. Alle die in Auschwitz waren, waren Verbrecher.“

Nach diesem Erlebnis nimmt Esther Bejaranos Leben eine neue Wendung. „Ich bin dann in meine Boutique zurückgegangen und habe sofort angefangen, mein Buch zu schreiben. Ich musste den Menschen erzählen, was damals geschehen ist,“ berichtet Frau Bejarano ihrer Zuhörerschaft: „Und ich bin sehr sehr glücklich, dass ich diesen Weg eingeschlagen habe.“

25 Schülerinnen und Schüler der Klasse 9bd nahmen am Abend des 24. März an einem Zeitzeugengespräch mit Esther Bejarano teil. Sie erfuhren, dass die Sängerin 1924 in Saarlouis als Tochter eines jüdischen Kantors unter dem Namen Esther Loewy geboren wurde und auch im Alter von von 95 Jahren noch quicklebendig mit der Band Mikrophone Mafia auftritt. Die Songs in deutscher, türkischer, jiddischer oder hebräischer Sprache unterstreichen die Auffassung der jüdischen, christlichen und muslimischen Bandmitglieder, dass sich Menschen aller Glaubensrichtungen generationenübergreifend verstehen können.

Im Mittelpunkt des Zeitzeugengesprächs standen Frau Bejaranos Erinnerungen an die Zeit des Nationalsozialismus. Mit der Machtübernahme der NSDAP 1933 musste Esther die Regelschule verlassen und besuchte fortan eine rein jüdische Schule. Es traf sie schwer, dass die meisten christlichen Freundinnen sich von ihr abwandten und weder mit ihr spielen noch sprechen wollten.

Später musste sie als junge Frau über zwei Jahre hinweg Zwangsarbeit leisten. Um die Rüstungsindustrie voranzutreiben, baute sie Schalter, die für deutsche U-Boote bestimmt waren. Die Firma Siemens zahlte ihr dafür später einmalig 1.500 Euro Entschädigung.

Am 20. April 1943 wurde Esther nach Auschwitz deportiert. Ihre musikalischen Vorkenntnisse verhalfen ihr zur Mitgliedschaft im jüdischen Mädchenorchester, dessen Aufgabe es war, beim morgendlichen Auszug der Arbeitskolonnen am Lager-Tor Märsche zu spielen und so den Häftlingen zum von der SS befohlenen Gleichschritt zu verhelfen. Das Allerschlimmste aber bedeutete es für Esther, unter scharfer Bewachung durch die SS mit dem Orchester bei der Ankunft der Deportationszüge fröhliche Lieder spielen zu müssen. Sie erinnert sich mit Schrecken an die aus den Zügen winkenden Menschen, die mit Hilfe der Musik über den wahren Charakter des Ortes hinweggetäuscht werden sollten. Die Musikerinnen wussten, dass die Neuankömmlinge direkt den Weg ins Gas antreten mussten; helfen konnten sie ihnen aber nicht.

Frau Bejarano berichtete auch von ihrer Verlegung ins KZ Ravensbrück und den sogenannten „Todesmärschen“. Dabei wurden die Häftlinge im Frühjahr 1945 als Evakuierungsmaßnahme in Marsch gesetzt, bevor die Alliierten das Lager erreichten. Wer aus Erschöpfung nicht mehr weiterlaufen konnte oder hinfiel und nicht mehr aufzustehen vermochte, wurde von den Wachmannschaften der SS noch am Wegesrand erschossen. In einem Waldstück gelang es Esther zusammen mit sechs weiteren Mädchen, sich von der Gruppe der Gefangenen abzusetzen und zu verstecken. Diese Mädchen überlebten den Todesmarsch und blieben später noch über viele Jahre miteinander befreundet.

Nach Kriegsende begab sich Frau Bejarano noch im September 1945 nach Palästina, wo sie fünfzehn Jahre lang lebte und ihren in Palästina geborenen Ehemann heiratete. 1960 kehrte sie in die Bundesrepublik zurück.

Noch immer informiert Esther Bejarano mit Leidenschaft und großer gedanklicher Klarheit, was sich zur Zeit des Nationalsozialismus mit dem Massenmord an den europäischen Juden ereignete. Nach Kriegsende hatte Esther den Gedanken an Rache, doch fiel diese letztlich anders aus als gedacht: „Ich gehe in die Schulen und erzähle den Menschen, was ich erlebt habe. Das ist meine Rache an den Nazis.“ Außerdem sieht Esther Bejarano ihre Musik als Mittel, Rassismus und Antisemitismus zu bekämpfen. Sie fordert die Jugendlichen auf mitzuhelfen, dass wir keine Nazis mehr in Deutschland haben: „Ihr seid nicht schuldig an der Vergangenheit, aber ihr macht Euch schuldig, wenn ihr diese Geschichte nicht wissen wollt,“ lautet ihre Botschaft. Und diese Botschaft kommt an: „Wenn Sie einmal nicht mehr da sein werden, dann werden wir Ihre Geschichte weitererzählen.“ So oder ähnlich antworten bisweilen diejenigen, die Esther Bejaranos erschütternde wie beeindruckende Geschichte gehört haben.

Johannes Lorentzen

Foto: ratatosk, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7912931