Bestsellerautorin Olga Grjasnowa liest aus „Gott ist nicht schüchtern“ – Das Schicksal kann brutal sein

8. Oktober 2019

Im Rahmen der Interkulturellen Wochen las die Bestsellerautorin Olga Grjasnowa am Abend des 7. Oktober zunächst im Aschaffenburger Stadttheater aus ihrem neuesten Roman „Gott ist nicht schüchtern“. Am Vormittag des 8. Oktober fanden dann im Medienraum des Dalberg-Gymnasiums zwei Autorenbegegnungen für die Schülerinnen und Schüler der elften und zwölften Jahrgangsstufe statt.

Die Begegnung mit der äußerst engagierten Autorin war sehr interessant für die jungen Zuhörer. Frau Grjasnowa erzählte unter anderem von ihrer eigenen Geschichte. Grjasnowas Leben selbst hat verschiedenste Einflüsse. Sie kam erst mit 11 Jahren als so genannter Kontingentflüchtling von Baku in Aserbaidschan nach Deutschland. In der Schule war es dann verständlicherweise aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse zunächst schwer für sie. Ihre Familie hat jüdischen, russisch-orthodoxen und muslimischen Hintergrund. Sie spricht viele Sprachen. Entsprechend sind Heimat, Ich-Findung und Religion zentrale Themen in ihren Texten. Deshalb wird ihren Romanen oft der Stempel „Migrantenliteratur“ aufgedrückt.  Früh entdeckte sie ihre Liebe für europäische Literatur. Den Schülern machte sie den Einfluss der Literatur und Kultur eines auf die eines anderen Landes deutlich. Sie gab den SchülerInnen auch einen interessanten Einblick in den Studiengang „Literarisches Schreiben“, in dem sie die Ideen für ihren vielbeachteten Debütroman  „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, der mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis und dem Anna Seghers-Preis ausgezeichnet wurde, entwickelte. Weiterhin erläuterte sie, wie sie die Themen für ihre Bücher findet und wie sie für ihre Geschichten recherchiert. Das war vor allem für den aktuellen Roman interessant, weil Frau Grjasnowa dafür zum Beispiel in die Türkei und nach Beirut reiste und Bildmaterial vieler syrischer Journalisten sichtete. Die Autorin gab Auskunft über ihre Arbeitsweise und ihren Arbeitsalltag. Außerdem informierte sie die SchülerInnen darüber, wie aus einem Manuskript dann schließlich ein Buch wird, das in den Läden zu kaufen ist. Es entwickelte sich ein sehr angeregtes Gespräch mit den SchülerInnen, die merkten, dass auch Bestsellerautorinnen ganz normale Menschen sind, die auch nicht auf alles eine hochgeistige Antwort haben.

Ihr aktueller Roman führt uns nach Syrien, mitten hinein in den Arabischen Frühling. Er erzählt vom Leben in einem auf der Willkür der Geheimdienste, auf physischer Gewalt und alltäglicher Korruption fußenden System, das allerhand Annehmlichkeiten für die Privilegierten einschließt und anfangs kaum merklich, dann unaufhaltsam seinem Untergang entgegentaumelt. Er erzählt auch von jungen, progressiven Kräften Syriens, die auf eine Veränderung, auf den Sturz von Assad hofften. Anhand der beiden Protagonisten, die im ganzen Buch nur zweimal aufeinandertreffen, zeichnet er nach, wie das Regime friedliche Demonstrationen niederschlägt und es rasch zur Eskalation kommt. Nach der Schilderung lebensgefährlicher Fluchtversuche übers Mittelmeer endet der Roman in Berlin. Beide Fluchtwege sind von krimineller Geschäftemacherei, Grausamkeit und Menschenverachtung gesäumt.

Es geht Grjasnowa darum, ein Bild vom Leben während des Arabischen Frühlings in Syrien zu zeichnen und die Zustände zu schildern, die schließlich zur Flucht ihrer Protagonisten führten. Für uns Deutsche holt das Buch die ferne Nachrichtenwelt in unsere Vorstellungskraft. Das war wohl auch der Anlass für die Autorin, den Roman zu schreiben: „Es gab so viele Berichte über Aleppo, und es hat nichts bewirkt. Auch in Russland nicht, wo es eine so deutliche Erinnerung an die Schrecken der Leningrader Blockade gibt.“ Amal und Hammoudi, die beiden Hauptfiguren, bringen uns ihre getrennten Welten so nah, dass trotz Weltenferne Empathie und Identifikation stattfinden können.

„Gott ist nicht schüchtern“ erwischt jeden Leser auf dem falschen Fuß. Auch wenn er glaubt, er habe bereits alles über Syrien gehört, über Assad, über Aleppo – Grjasnowa erspart ihm nichts. Sie will nicht nur informieren, sondern auch manipulieren. Das ist klar. Der Leser soll denken, „dass hinter jeder Nummer ein Mensch mit einer Geschichte steckt“.

Die Autorin schreibt aber auch ganz allgemein über Fluchterfahrung. Es ist nicht einfach nur eine Geschichte aus einem fernen Land. Die Biografie von Grjasnowas Mann taucht in Versatzstücken im Roman auf, die Schauspielschule in Damaskus, die ersten Rollen im Fernsehen, das Exil in Beirut, die Flucht. Natürlich waren seine Erlebnisse der Ausgangspunkt des Buches. Dann sind immer mehr Geschichten von Familienangehörigen und Freunden hinzugekommen. Im Schicksal der Geflüchteten sieht Grjasnowa außerdem die Geschichte ihrer eigenen Großmutter, die aufgrund der Verfolgung durch die Nazis von Weißrussland nach Baku in Aserbaidschan floh. Diese Flucht dauerte über drei Jahre und erstreckte sich über mehr als 2500 Kilometer. Flucht und Exil sieht Grjasnowa als überzeitliche Erfahrungen. Sie stellten den Menschen immer wieder vor die gleichen Fragen. Es sind die Fragen ihrer Großmutter: „Wo geht man hin? Und wie?“

Die Erinnerung an die erzwungenen Wanderungen der Kriegs- und Nachkriegszeit begegnet im Roman direkt der aktuellen Flüchtlingskrise. Amal hat auf ihrer Flucht zwei Bücher dabei: „Die Nacht von Lissabon“ von Erich Maria Remarque und „Transit“ von Anna Seghers, zwei Klassiker der deutschen Emigrantenliteratur. Auch wird aus Brechts „Flüchtlingsgesprächen“ zitiert.

Der dokumentarische Stil lässt das Bewahren von Erinnerungen als Priorität erahnen. „Wir sagen ‚Nie wieder‘ und dann wiederholt es sich doch“, sagt Grjasnowa. „Ich will, dass die Leser sich nicht so sicher sind, dass so etwas nicht auch bei uns passieren könnte. Gegen diese Überheblichkeit schreibe ich an.“

Wir bedanken uns bei Frau Grjasnowa für die tolle Autorenbegegnung und hoffen, dass unsere SchülerInnen für ihre Themen und Anliegen sensibilisert wurden.

PfF